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AVIVA-BERLIN.de im September 2024 - Beitrag vom 31.05.2024


Philipp Peyman Engel, Helmut Kuhn: Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch
Nea Weissberg

Das erbarmungslose Massaker der Hamas-Terroristen vom 7. Oktober 2023 im Süden Israels, das sich der Terrorelemente aus der Zeit der Shoah bediente, nimmt Philipp Peyman Engel zum Anlass, um die reaktive Reflexivität politischer und moralischer Haltung in Deutschland und weltweit kritisch zu analysieren. AVIVA-Berlin verlost 2 Bücher




Nach dem von den Hamas-Terroristen minutiös geplanten und brutal quälerisch ausgeführten Mord – sexuellem Missbrauch-, Zerstückelungs- und Verschleppungsmassaker – der aufgrund der ins Internet gestellten Handyfilmaufnahmen ganz Israel und die Judenheit in der Diaspora in Schrecken gehalten hat, haben sich weite Teile der Medien in Deutschland/weltweit im Hörfunk, Presse, TV mit Begriffen überschlagen, die unter dem Deckmantel "Israelkritik" antizionistisch, israelfeindlich und enthemmt judenfeindlich sind.

Obwohl die den Menschen in Israel verübte Gewalt von so heftigem brutalem Sadismus und Verhöhnung begleitet ist, wird Israel undifferenziert als alleiniger Aggressor bezeichnet, die IDF-Armee wird wegen ihres reaktiven Verteidigungskrieges willkürlich eines genozidalen Krieges in Gaza bezichtigt und ein Aushungern von Gaza-Palästinensern wird ungeprüft fernab der Lebenswahrheit verbreitet.

Philipp Peyman Engel hinterfragt, wann die Verantwortung von politisch hohen Amtsträgern in Deutschland beginnt und inwieweit darauf Verlass ist, dass die Sicherheit Israels zur Staatsräson der Bundesregierung gehört und kein diplomatisches Schachspiel ist. Er zeigt einen Widerspruch zwischen "Sonntagsreden" und Handeln auf der weltpolitischen Bühne auf. Er benennt nach dem Pogrom am 7. Oktober 2023 die diversen ideologisch bedingten Hintergründe, die zu einem erhöhten Gewaltpotential gegenüber Juden und Jüdinnen geführt haben. Er zeigt die Vorboten des Hasses, wie etwa der völkisch-nationalistisch antisemitisch motivierte Mordanschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) am 9. Oktober 2019, an Yom Kippur, dem erhabensten jüdischen Feiertag.

Ein überkochender Kessel ist entflammt und quillt empor

Engel führt in zehn Kapiteln beispielhaft und gut recherchiert aus, wie der Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023 das Leben von Juden und Jüdinnen ihren Alltag existentiell bedroht – mit langanhaltenden emotionalen, mentalen und körperlichen Nachwirkungen.
"Es ist der dunkelste Moment in der Geschichte Israels und der dunkelste Tag in der Geschichte des jüdischen Volkes nach 1945."

Philipp Peyman Engel wurde 1983 in Herdecke im Ruhrgebiet als Sohn einer iranischstämmigen Jüdin und eines deutschen, nichtjüdischen Vaters geboren. "Ich bin halber Deutscher, halber Perser, aber ganzer Jude." Engel hat zwei Geschwister, einen Bruder und eine Schwester. Sie waren alle Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Dortmund, hatten jedoch kein Bedürfnis nach aktivem religiösem Leben. Sie fühlen sich der jüdischen Kultur und Tradition sowie der persischen Kultur und Geschichte verbunden. Mizrachim identifizieren sich oft mit ihrem gebürtigen Heimatland bzw. dem ihrer Vorfahren. Der Vorname Peyman stammt aus dem Persischen, wird häufig als Symbol für Loyalität und Vertrauen verwendet. Die Familie seiner Mutter floh 1979 aus dem Iran. Engel ist verheiratet und hat ein Kind, die Familie lebt in Berlin. Rosh Ha Shana 2023 übernahm Engel die Chefredaktion der Wochenzeitung Jüdische Allgemeine.

Eingebettet in seine sehr persönlich erzählte Lebensgeschichte berichtet Engel von jüdischem Leben im vereinigten Deutschland, von "Kindermörder"- und "Fuck Israel"-Gebrüll, "Juden ins Gas"-oder "Jude, Jude, feiges Schwein"-Geschmiere, vom Vernichtungsruf "From the river to the sea, Palestine will be free", von dem weltweiten Aufruf "Tag des Zorns", der eine deutliche Aufforderung ist, alle Juden und Jüdinnen zu ermorden.

Der Autor hinterfragt Zerrbilder und in welchem Maße verschiedene ideologische Strömungen und Milieus von Judenhass erfasst sind. Die 68er- westdeutsche, radikale Linke etwa war vor 1967 pro-israelisch, danach bis heute militant antizionistisch. Die Sozialistische Einheitspartei Westberlin (SEW) war eine Bastion der SED, von der sie auch unterstützt wurde. Zwischen dem Bonner "Marxistischen Studentenbund Spartakus" (MSB) wie auch dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und der DDR formierte sich ein ideologisches Bündnis: Israel war der Feind der "arabischen Befreiungsbewegung". In beiden deutschen Staaten lebten Männer und Frauen, die dem NS-Täterland entstammten und in ihrem Lebensalltag davon geprägt waren.

79 Jahre nach Auschwitz zeigt sich in Deutschland der Judenhass von Linksradikalen, Rechtsradikalen, von ideologisch radikalisierten islamistisch geprägten Einwanderern und deutsch-deutschen demonstrierenden Claqueuren, so schamlos offen wie nie zuvor. Pazifistisch orientierte Studierende und Schüler*innenschaft unterstützen offen Hamas Terroristen, obwohl sie israelische Zivilist*innen aus dem Friedenslager der Palästinenserfreunde und feiernde Jugendliche auf grausame Weise ermordeten, vergewaltigten, tote Körper schändeten, entführten und unschuldige Menschen bei lebendigem Leib verbrannten. Die religiös-fundamentalistischen Hamas Mörder mutieren zu einer Widerstandsbewegung.

Steht dahinter der Wunsch, die historische Verantwortung Deutschlands endlich abzustreifen zu können (?), ist eine der Fragen des Buches. Engel nennt es in Kapitel 2 Die postkoloniale Endlösung, die "Free Palestine from German guilt" einfordert. Er will die stillschweigende Mehrheitsgesellschaft aufrütteln, laut Engel muss die Gesellschaft dafür Verantwortung übernehmen, dass die "Deutsche Staatsräson" nicht zur leeren Worthülse zerfällt. Denn die Sicherheit jüdischen Lebens ist nach dem Pogrom am 7.Oktober 2023 so bedroht wie nie zuvor.

Familienbiographischer Rückblick der mütterlichen Linie

Engel berichtet von Mizrachim, deren Heimat seit 2500 Jahren Persien war, das ab 1935 Iran hieß und seit 1979 von radikal islamistischen Ideologen und geistigen religiösen Führern Islamische Republik Irans genannt wird. Bis Ende der 1970er-Jahre lebten an die 120.000 Juden und Jüdinnen im Iran.
1979 konfiszierten die Mullahs jüdisches Eigentum, raubten und plünderten. "Es gab tödliche, judenfeindliche Pogrome.", viele Iraner, Iranerinnen flüchteten nach der Machtübernahme durch die Mullahs unter Führung von Ayatollah Khomeini und flohen u.a. nach Deutschland.

Kapitel 5. Wedding ist überall

"Arye Shalicar ist einer der wenigen Menschen, mit denen ich über diese Fragen, die mich nicht erst seit dem "Schwarzen Schabbat" am 7. Oktober beschäftigen, sprechen kann." (Philipp Peyman Engel)
Shalicar, geboren 1977 in Göttingen, ist ein deutsch-israelischer Politologe, Publizist, Schriftsteller und Regierungsmitarbeiter der IDF und iranisch-jüdischer Herkunft wie Philipp Peyman Engel. Er emigrierte 2001 nach Israel und machte dort Alija. Philipp Peyman Engel und sein Freund Arye Shalicar können sich wechselseitig über den wachsenden muslimischen Judenhass, über Linksradikalismus und den Judenhass deutscher Rechtsextremisten austauschen, sind emotional aufgrund ihrer gemeinsamen persisch jüdischen Herkunft einander in Freundschaft zugeneigt.

Solange ich atme, hoffe ich. (Cicero)

Die Freunde muntern sich mit einer positiven Vision auf, die berührt: "Ich habe da einen Traum" "Welchen...?" "Ich will, wenn das Mullah-Regime gefallen ist und Israel und der Iran einen Friedensvertrag geschlossen haben, Botschafter in Teheran werden. Der erste israelisch-persisch-deutsche Botschafter im Iran. Und du wirst mein Presse-Attaché... Bist du dabei?" "Nächstes Jahr in Teheran!"

AVIVA-Tipp: Auf Juden und Jüdinnen projizieren die ANDEREN lange tradierte Vorurteile. Antisemitismus ist daher nicht getrennt und entkoppelt vom jüdischen Alltag. Engels Buch sollte in jedem Bücherregal stehen und eignet sich wegen des zeitgeschichtlichen Rückblicks und des ungewöhnlich privaten Einblickes für Studierende und für politisch am Nahost Konflikt Interessierte.

Zum Autor: Philipp Peyman Engel, geboren 1983 in Herdecke, ist als Sohn einer persischen Jüdin und eines deutschen Vaters im Ruhrgebiet aufgewachsen. Er studierte Philosophie, Pädagogik und Literatur und Medienpraxis in Bochum sowie Essen.
Der Journalist ist Chefredakteur der Wochenzeitung "Jüdische Allgemeine".
Das "Medium Magazin" zeichnete ihn 2023 mit dem renommierten Medienpreis "Chefredakteur des Jahres" aus. Texte von Engel zum jüdischen Leben, Antisemitismus und Israel erscheinen regelmäßig im "Spiegel", "FAZ" und "Deutschlandfunk".
Als Chefredakteur der "Jüdischen Allgemeinen", insbesondere für sein Engagement gegen Antisemitismus, erhält Philipp Peyman Engel den diesjährigen Ricarda-Huch-Preis der Stadt Darmstadt.

Mitautor: Helmut Kuhn, geboren 1962 in München, studierte Geschichte und Publizistik an der Berliner Freien Universität und der Pariser Sorbonne. Arbeitete als Reporter, Redakteur und freier Autor in New York und Berlin, u.a. für Aufbau, mare, Stern, Focus, DIE ZEIT, NZZ und die Jüdische Allgemeine. Neben seinen verschiedenen Erzählbänden, Romanen und Sachbüchern ist er Co-Autor des Buches von Murat Kurnaz Fünf Jahre meines Lebens. Helmut Kuhn erhielt den Hansel-Mieth-Reportagepreis, das Literaturstipendium Kunstraum Syltquelle und nahm am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. Kuhn lebt in Berlin.

Philipp Peyman Engel, Helmut Kuhn
Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch

Dtv, erschienen 2024
192 Seiten
Euro 18,00
Mehr zum Buch sowie Lesungstermine unter: www.dtv.de



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Beitrag vom 31.05.2024

Nea Weissberg